Humor im Angesicht des Todes
Karl Valentin hat einmal gesagt, ach,... was sag ich...
Er hat viel gesagt. Viel Gutes und Großartiges.
Zum Beispiel sowas hier:
» Wer am Ende ist, kann von vorne anfangen, denn das Ende ist der Anfang von einer anderen Seite.«
» Da hab ich ein Leben lang Angst vor dem Sterben und jetzt das.«
» Schütze deinen Leib solange er warm ist.«
» Wenn der Mensch gestorben ist, ist er tot. Das ist sicher, also todsicher, wie man so sagt.«
Wie recht dieser großartige Mensch bereits vor gut 80 Jahren doch hatte.
In einem Clowns Workshop mit der tollen Annemie Missinne hörte ich den Satz: "Der Clown und der
Tod sind wie Geschwister - sie nehmen beide das Leben nicht so ernst."
Ja. Es ist so.
Abschied nehmen, das Sterben und den Tod eines mir nahestehenden Menschen mitzuerleben und dies zu akzeptieren, sind mitunter die
schlimmsten Erfahrungen, die es im Leben zu über-leben gilt. Das ist einfach furchtbar und tut unendlich weh. Will man nicht erleben müssen. Tun und müssen wir aber -
immer und immer wieder. Wenn ich an all meine Abschiede denke, die ich in meinem Leben bisher von Menschen und anderen Lebewesen nehmen musste, fängt mein Kinn gleich wieder an zu wackeln, mein
Hals schnürt sich zusammen und ich muss schneller Blinzeln als sonst, damit die Tränen keine Chance haben herauszupurzeln.
Ach, Purzel: so hieß mein Hamster, den ich nicht mal 2 Jahre bei mir hatte und den ich davon vielleicht 1 Jahr gesehen habe. Er war ja eher nachtaktiv. Das bin ich
erst geworden, als Purzel nicht mehr da war.
Es sind eigentlich schon bereits die kleinen Abschiede, die sich bei mir in meinen einstelligen Lebensjahren eingebrannt haben.
Abschied von meinen Eltern nehmen, um allein in den Kindergarten zu gehen, Abschied von meiner Lieblingshose, weil ich (zum Glück) größer wurde, der letzte Schluck Cola (als ich noch gern Cola trank), das letzte Mal am Eis lecken, bevor die 6 Kugeln für immer verschwunden sind,...
Es gab so viele Momente, die ich früher schon traurig fand. Ernsthaft.
Es war für mich schwer anzunehmen, dass ich durch mein Leben z.B. ohne besagte Hose jemals wieder freudvoll gehen könnte. Teilweise spüre ich einen Hauch von dem
früheren Schmerz auch heute noch. Nur nicht mehr mit so viel Wucht.
Und ja, ich habe gelernt, dass ein Leben auch mit verschwundenen Eiskugeln glücklich sein kann.
Klar, mittlerweile könnte ich mir, wenn ich wöllte, jeden Tag 6 Kugeln Eis kaufen. Will ich aber nicht. Nicht immer jedenfalls.
Wie ist das dann am besten zu überleben, wenn man an die ernsthafteren Abschiede heran muss? Wenn man sich wirklich von lebendigen Lebewesen verabschieden muss?
Natürlich waren die ersten Tode von unseren Haustieren, mit denen meine Geschwister und ich in der Kindheit aufgewachsen sind, schlimm.
Ricky hoppelt teilweise immer noch in meinen Träumen über Feld und Wiesen. Und das nach beinahe 30 Jahren. Es gab einige Beerdigungen bei uns im Garten. Auch ganz kleine Babyhasen mussten wir mal beerdigen, da diese leider (ich glaube nicht aus Versehen) vom Papahasen tot getrampelt wurden. Unsre ganze Familie stand da und hat geweint.
Neulich hat mir eine 94-Jährige im Altenheim voller Hingabe ihre wohlsortierten Unterlagen von früher gezeigt. Sie war Sekretärin bei einem Oberbefehlshaber in München. Darauf war sie sichtlich stolz und ebenso über ihre Ordnung, die sie ihr ganzes langes Leben lang beibehielt. So blätterte sie in ihrem Ordner und hielt dann plötzlich inne.
Ihre Hand und Stimme fingen an zu zittern, noch mehr als eh schon (verständlicherweise mit zarten 94).
Der Grund dafür war das Entdecken der Unterlagen, die sie von diversen Tierarztbesuchen mit ihrem Kater Charly angesammelt hatte. Darunter war auch die Quittung über den Betrag, den sie bei der Einschläferung bezahlen musste. Und so saß die Dame mit ihrem geordneten Leben vor mir und beweinte den Tod von Charly, der mindestens 20 Jahre zurück lag.
Seht Ihr?
Es wird weiterhin geweint und betrauert. Auch nach so langer Zeit. Trauer und der damit verbundene Schmerz kommen immer wieder. Der Schmerz verändert sich. Es ist
meine Entschiedung wie lange ich in diesem Moment verweile. Ich kann mich in Trauer suhlen, ja. Aber ich kann auch einfach die Trauer, die kommt und geht, wie Ebbe und Flut, annehmen, anschauen,
betrauern und wieder gehen lassen.
Wer bitteschön hat uns das Weinen eigentlich verboten?
Wie kam das, dass wir uns immer wieder dafür insgeheim schämen, über etwas oder jemanden Tränen zu vergießen?
Wer war das? Ich will Namen.
Es kann nur 2 Erklärungen dafür geben:
1. Es muss irgendwann in der ersten Phase unsrer Menschheitsgeschichte gewesen sein, dass jemand bei dem berühmten Kampf zwischen Mammut und Mensch Pipi (also
Tränen!) in den Augen hatte, aus Angst vor der bevorstehenden Situation oder aufgrund eines Verlusts, der kurz zuvor in der
Familie passiert ist. Gefühle kamen eben hoch.
Der Ober-Mammut-Jäger-Anführer hat das gesehen, das einer seiner Mit-Jäger Pipi in den Augen hatte und dann hat er gesagt:
"Hör auf zu weinen, sonst siehst du ja gar nichts mehr und verfehlst das Mammut. Oder noch schlimmer: du weisst nicht wohin du fliehen musst, wenn das Mammut auf dich zukommt."
Die 2. Erklärung ist:
Der Ober-Mammut-Jäger-Anführer war emotional so berührt davon, dass dem emotionalen Mit-Jäger die Tränen herunterliefen, da er den Tod des anderen Mit-Jägers von der letzten Jagd noch verarbeiten musste, dass der Ober-Mammut-Jäger-Anführer gemerkt hat, wie ihm selbst ein Kloß im Hals hing und er mit der Situation überfordert war. Was soll er tun? Er muss doch professionell sein, merkt aber, wie ihm selbst die Knie weich werden und ihn ein trauriges, diffuses Gefühl überkommt. Schließlich hat er selbst erst jemanden verloren.
Er will natürlich das Gesicht bewahren und jaaaa nicht den Posten des
Ober-Anführers verlieren (wegen all dem Ansehen, dem Ruhm und den ganzen Frauen und Männern, die ihn dann anhimmeln), dass er zu dem Emo-Mit-Jäger mit genervtem Zornesblick kurz und knapp und mit
scharfem Ton sagte: "Hör auf zu heulen!"
So hat der Emo aufgehört und der Ober-Jäger konnte sein Gesicht bewahren.
Diese beiden Erklärungen sind die einzigen die es dafür geben kann, warum das Weinen in der Öffentlichkeit "VERBOTEN" ist.
Wer etwas anderes weiss, kläre uns alle bitte auf.
Ich vermute, dass Erklärung 2 ziemlich nah an die Wahrheit heran kommt.
Zumindest mir ging es früher oft so, dass ich schnell am Mitweinen war, wenn ich jemanden weinen sah - nicht nur, wenn ich die Person kannte. Auch bei Fremden war ich sehr nah am Wasser gebaut.
Ähnlich war das bei mir auch, wenn sich jemand übergeben musste. Ich war tatsächlich empathischer als mir lieb war und habe teilweise "Übergaben" mitmachen müssen. Verrückt.
Lasst uns dafür einstehen, dass es gut ist hin und wieder Tränen zu vergießen. Ich weiss ja nicht, ob Du's schon wusstest, doch die chemische Tränenzusammensetzung unterscheidet sich mit dem Anlass der Tränen. Emotionale Tränen enthalten mehr Hormone und Eiweiße. Die Kalium- und Mangankonzentration ist wesentlich höher als in Tränen, die beim Zwiebelschneiden oder Mücke-im-Auge-haben entstehen.
Tränen können alle Menschen auf der ganzen Welt "verstehen" und zwar tiefer als es ihnen lieb ist.
Weinen ist wie 1.400 Umdrehungen beim Schleudergang der Waschmaschine. Hin und wieder den Stress, Trauriges, schwere Bilder und Begegnungen hinausweinen, hilft mir, mich zu erden, Dinge zu betrauern und danach wieder weiter zu machen. Auch Berührendes, mich mit absoluter Dankbarkeit Erfüllendes beweine ich hin und wieder.
Sobald sich meine Gefühle melden, habe ich die Wahl diesen Gefühlen nachzugehen oder nicht.
Wir sind alle soweit gut trainiert, Tränen aktiv zurückhalten zu können. Auch ich schaff es hin und wieder (aber nicht oft und das dann auch überhaupt nicht "gut"). Die immer bessere Entscheidung wäre, das die Gefühle raus dürfen. Und sei es 20 Minuten später, wenn ich aus der U-Bahn endlich Zuhause in Ruhe angekommen bin und meinem Tränen-Sein freien Lauf lassen kann oder einen Tag später oder nach der letzten Prüfung in 2 Wochen...
Fakt ist, dass irgendwann die Zeit für die Gefühle da sein sollte. Sonst holt sich das ein UND das andere Gefühl ein anderes Plätzchen. So ist das. Ganz einfach. Ganz fies, doch ganz einfach.
Karl hat mal gesagt:
"Nieder mit dem Verstand - es lebe der Blödsinn."
Daran angelehnt schließe ich mit den Worten:
"Nieder mit den Tränen - es lebe das Taschentuch."
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Bianka (Donnerstag, 10 März 2022 09:01)
Ach, wie wunderbar!
Ja, dieser Zauber mit den Gefühlen. Da lässt man sie einmal, zweimal nicht zu und…schwups… deckt sich ein anderes Gefühl darüber. Fein säuberlich, ohne das wir es wirklich merken.
Danke, für diesen tollen Text und Danke Karl, für all deine Klugheit!